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Wie man mit dem Zeichenstift philosophiert: Zeina Abirached hat „Der Prophet“, das Kultbuch des 20. Jahrhunderts von Khalil Gibran, in eine aufregende Graphic Novel verwandelt.
Der Prophet ist im Aufbruch, er will zurück nach Hause. Viele Jahre lebte Almustafa in der fremden Stadt Orfalis, hat gewartet auf das Schiff, das ihn zurückbringen wird auf die Insel seiner Geburt. Auch im zwölften Jahr, am siebten Tag des Erntemonats Jelul, ist er wieder auf einen Hügel vor der Stadt gestiegen, um Ausschau zu halten - und da sieht er tatsächlich das Schiff aus dem Nebel herankommen. Man weiß nicht, was ihn in die fremde Stadt verschlagen hat und was ihn zwölf Jahre dort ausharren ließ, aber seine Sehnsucht kann man durchaus nachvollziehen, denn die Heimatinsel, wie sie hier, in der Comic-Version des „Prophet“ auftaucht, erinnert in ihrer Heimeligkeit an die Insel Lummerland in Michael Endes Geschichten um Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer.
“Der Prophet“ ist ein Klassiker der modernen Weltliteratur, ein Kultbuch vor allem in den USA, wo es vor einem Jahrhundert, im Jahr 1923, erschienen ist. Der Verfasser Khalil Gibran wurde 1883 im heutigen Libanon (damals Teil des Osmanischen Reichs) geboren, kam als Jugendlicher nach Amerika, wo er zahlreiche Bücher schrieb. 1908 begann er in Paris Kunst zu studieren, zu malen und zu zeichnen. Im Jahr 1931 ist er gestorben, mit 48 Jahren. Bei uns ist sein erzählerisches Denken nicht ganz so berühmt geworden, er steht im Schatten von Nietzsche und dessen Zarathustra.
Dieser Weise ist ein Dandy, ganz Zwanzigerjahre, Belle Époque
Als das fremde Schiff anlegt, kommen die Menschen von den Feldern und Weinbergen, sammeln sich um Almustafa - er ist „der Auserwählte und Geliebte, Morgenröte seines eigenen Tages“, in Orfalis ein gefragter Erzähler, mit dem Leben der Bevölkerung vertraut, ein mythischer Promi. Sprich zu uns, fordern die Leute ihn auf, und sie geben ihm Stichpunkte vor, zu denen sie ihn hören wollen, Liebe und Ehe, Essen und Trinken, Häuser und Kleider, Verbrechen und Strafe, Vernunft und Leidenschaft, Schmerz und Selbsterkenntnis, Gebet und Genuss, Schönheit und Zeit, Religion und Tod. Also spricht der Prophet.
Ein Buch, das aus lauter philosophischen Diskursen besteht, in eine Graphic Novel zu verwandeln, das erscheint abenteuerlich und absurd. Der in Beirut geborenen, in Frankreich lebenden Zeichnerin Zeina Abirached ist es auf eine spektakuläre Weise gelungen, die Bewegungen dieses Denkens zu visualisieren. „Ich kannte einige Sätze, die auf Hochzeiten oder Feiern zitiert wurden“, erzählt sie in einer Vorbemerkung, „und ich muss zugeben, dass die zwangsläufige Nähe aufgrund meiner Herkunft oft mit einem Gefühl der Verlegenheit verbunden war. Ich sollte diesen Propheten kennen ... aber etwas hielt mich auf Distanz. Als ich Der Prophet mit einem Bleistift in der Hand und einem Zeichenblock auf dem Schoß las, lernte ich ihn schließlich kennen.“
Der Prophet, den wir dann durch Abiracheds Bilder kennenlernen, hat nichts von der Aura abgeklärter Altmännerweisheit. Almustafa ist ein junger Mann mit glattem, ein wenig leerem Gesicht, unter einem verzierten Fes, die zwei gezwirbelten Spitzen des Schnurrbarts, die waagrecht aus seinem Gesicht ragen, wirken wie angepappt, eine Kostümierung. Dieser Prophet ist ein Dandy, ganz Zwanzigerjahre, Belle Époque.
Die Gedanken des Propheten werden nicht illustriert, sondern ornamentalisiert
Die Illustrationen, die Khalil Gibran selbst seinem Buch einst beigab, sind klassischer Jugendstil, ein wenig schwülstig, nackte Körper, die sich gegenüber finden oder verschlingen, in paradiesischer Umgebung. Bei Zeina Abirached (sie hat im Avant-Verlag verschiedene Comic-Bücher veröffentlicht, „Das Spiel der Schwalben“, oder „Zuflucht nehmen“) findet sich die Figur in einem stilisierten Art-Deco-Kontext, der die Gedanken des Propheten nicht illustriert, sondern ornamentalisiert, man folgt dem Fließen der Worte zwischen Girlanden aus Flugsamen, Blättern, Vögeln, Schaumkronen, aber auch Menschen, die in langen Ketten sich bewegen.
Die Reden des Propheten sind nicht auf eine unbekannte Zukunft gerichtet, sondern auf den Alltag, in seinen Parabeln steckt immer ein praktischer Bezug, der manchmal ins Traumhafte spielt. Freude und Leid, erklärt er, „sie kommen gemeinsam, und wenn eins davon mit euch am Tisch sitzt, denkt daran, dass das andere auf eurem Bett schläft“. Diese Philosophie löst den Individualismus wieder auf, die große Errungenschaft des Denkens der Neuzeit, mit seiner kategorischen binären Struktur, Ich oder Du, schwarz oder weiß, gut oder böse, das unaufhörliche Entweder-Oder. Die Dialektik des Propheten kennt dagegen nur eine Einheit des Geschehens und Handelns, eine überindividuelle Gemeinschaft, das Leben. „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst ...“ Keine Helikopter-Eltern! Ihre Seelen „wohnen im Haus des Morgen, das ihr nicht zu betreten vermögt, auch nicht in euren Träumen.“ Eine Einheit des Denkens und des Handelns, der Triebe und Impulse, des Innen und Außen: „In Wahrheit ist das Leben ohne Antrieb Finsternis und jeder Antrieb ohne Wissen blind und jedes Wissen ohne Arbeit eitel und jede Arbeit ohne Liebe leer.“
Vieles bleibt trotz der Fülle der Sprüche ungesagt vom Propheten, in diesem Wirbel der Buchstaben und geheimnisvollen Zeichen. Man sieht ihn kaum als ganze Figur, immer nur als Büste, Gesicht und Oberkörper. Durch die ornamentale Grafik wirkt alles wie gestempelt, selbst das ausdruckslose Gesicht des Propheten. Es ist wie ein Markenzeichen, das seinen Gedanken aufgedrückt wird. „Das Meer, das alle Dinge zu sich ruft, ruft auch mich, und ich muss gehen. Denn bleiben, wenngleich die Nachtstunden brennen, hieße gefrieren, zu Kristall werden und in einer Form gefangen sein.“
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